In meinem letzten Beitrag habe ich anhand von Nietzsches Idee von der „Flucht zum Nächsten“ betrachtet, was wir von ihm über die Kunst der Selbstliebe lernen können. Heute wollen wir uns ein weiteres Konzept Nietzsches genauer ansehen: die des Fatum.

„Fatum“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt so etwas wie „Götterspruch“ oder „Schicksal“ – also ein vorbestimmter Pfad durch unser Leben. Nun ist die Diskussion, ob es einen freien Willen gibt oder wir nur glauben, unsere Entscheidungen selbst zu treffen, so alt wie die Geschichte der Philosophie.

Uns soll an dieser Stelle nur interessieren, ob es praktische Lektionen gibt, die wir aus dem Konzept des Schicksals ableiten können – um Verhaltensweisen abzulegen, die wir eigentlich nicht wollen, oder uns sogar in eine Richtung zu bewegen, die unserer Natur gerecht wird.

Was ist Schicksal?

Der Begriff des Schicksals erscheint uns möglicherweise als ein religiöses, zumindest aber als ein philosophisch-abstraktes Konzept. Besonders im alten Griechenland war die Idee sehr prominent, etwa in der Geschichte des König Ödipus, dem prophezeit wird, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten wird. Er unternimmt daraufhin alles, um die Erfüllung seines Schicksals zu verhindern – und bewirkt damit doch nur, dass es genau so kommt.

Im antiken Griechenland galt es als die höchste Form der Lebenskunst, anzuerkennen, dass die Götter das Schicksal der Menschen bestimmen. Anstatt sich dagegen aufzulehnen oder zu versuchen, alles ganz anders zu machen, liegt die Verantwortung des Einzelnen darin, sich in sein individuelles Schicksal zu ergeben und es „mannhaft“ ohne Klage zu erfüllen.

Grundsätzlich liegt in dieser Ansicht eine Weisheit. Denn es gibt tatsächlich, auch in unserer modernen Welt, Vieles, was wir einfach nicht beeinflussen können. „Schicksalsschläge“, also Ereignisse die von außerhalb unseres Machtbereiches auf uns einwirken, können jeden von uns treffen, ganz egal, wie gründlich wir uns vorbereiten und wir gut wir die Bereiche unseres Lebens „unter Kontrolle“ haben.

Zugleich kann das klaglose Ergeben in unser Schicksal nicht die ganze Wahrheit sein. Denn wo sollten wir sonst die Grenze ziehen zwischen dem, was wir ertragen müssen und dem, was wir ändern können? Wenn jeder von uns einfach annähme, was uns von außen her zustößt, gebe es weder persönlichen noch gesellschaftlichen Fortschritt. So gut wie alle positiven Veränderungen beginnen mit der Frage: „Muss das so sein … oder kann man es nicht auch besser machen?“

Schicksal ohne Götter

Auch wenn sich das Konzept des freien Willens durch die gesamte Philosophiegeschichte zieht, waren es vor allem die Aufklärung und die exponentiell zunehmende Machtfülle des Menschen durch die wissenschaftliche Methode, die immer stärker die Idee in den Vordergrund treten ließen, dass der Mensch aus eigener Kraft in der Lage ist, seine Lebensumstände zu verbessern.

Das Pendel schwang dabei ins Gegenteil der Schicksalsergebenheit der alten Griechen: Es schien, als gäbe es nichts, was der menschliche Geist nicht durchdringen, begreifen und dadurch verändern könnte – als nähere sich die Menschheit einer beinahe absoluten Freiheit, begrenzt allenfalls noch von Naturgesetzen.

Die aufkommende Disziplin der Psychologie im 19. Jahrhundert verursachte diesem Glauben einen herben Dämpfer. Siegmund Freud und seine Schüler deckten auf, dass der Mensch keineswegs das tut, was er will – sondern dass er weitgehend unter der Macht von Trieben und Impulsen seines Unbewussten agiert.

Freud wird der Ausspruch zugeschrieben, er habe dem (europäischen) Menschen seine dritte große Kränkung zugefügt: Die erste lieferte Kopernikus, als wir verkraften mussten, dass wir und die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums, nicht einmal im Zentrum unseres Sonnensystems stehen. Für die zweite sorgte Darwin, als wir anerkennen mussten, dass wir „nur“ vom Affen abstammende Tiere sind. Und die dritte eben Freud, der uns klarmachte, dass wir nicht einmal in unserem eigenen Kopf und Körper „Herr im Hause“ sind.

Insofern zeigte die Psychologie, dass ein „Schicksal“ nicht nur denkbar ist, wenn man an Götter glaubt, die das Leben jedes Menschen vorbestimmt haben. Ebensosehr gibt es, wissenschaftlich betrachtet, Mächte in uns, die einen großen Teil unserer Handlungen bestimmen – und die auf oft frustrierende Art dafür sorgen, dass wir dieselben Dinge, die wir eingentlich nicht wollen, immer wieder tun.

Moderne Blicke auf das Schicksal

Wie sehr wir immer noch von der Frage nach dem Schicksal beeinflusst sind, zeigt sich auch in der modernen Psychologie und in politischen Debatten. Immer wieder kommt dabei die Frage auf, inwieweit „nature or nurture“ bestimmen, wer wir sind und was wir tun.

Der Aspekt „nature“ bezieht sich auf angeborene Faktoren, also inwieweit unsere Gene, Biologie und Gehirnchemie unser Verhalten beeinflussen. Der Aspekt „nurture“ bezieht sich auf unsere Konditionierung, also auf Einflüsse wie unser Elternhaus, gerade in der frühkindlichen Phase, unsere Kultur und Ideen, an denen wir uns orientieren.

Der Einfluss von Traumata liegt in dieser Aufteilung irgendwo dazwischen, da die Frage, inwieweit intergenerationelle Traumata auch körperlich „vererbt“ werden, wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt ist.

Die meisten Menschen sind vermutlich der Meinung, dass beide Aspekte eine Rolle spielen und dass keiner davon allein unser Verhalten erklären kann. Zugleich kennen viele von uns das Problem, in bestimmten Verhaltensweisen „festzustecken“ oder zumindest immer wieder bei den gleichen, unerwünschten Ergebnissen auszukommen, auch wenn wir eigentlich versuchen wollten, uns beim nächsten Mal anders zu verhalten.

Insofern kann es auch dem nicht religiösen Menschen erscheinen, als ziehe sich ein Schicksal durch sein Leben, dem er nicht oder nur schwer entkommen kann. Zum Glück ist immer, wenn es um die Frage geht, wie sich der einzelne Mensch Freiräume im überwältigenden Universum erkämpfen kann, unser Freund Nietzsche mit dem geistigen Seziermesser zur Stelle.

Nietzsche und das Fatum

Nietzsche hat viele Konzepte intuitiv erkannt und vorweggenommen, die Siegmund Freud mit seiner Psychoanalyse später systematisierte – auch wenn Freud darauf beharrte, Nietzsche nie gelesen zu haben und darüber sogar mit seinen berühmten Schülern Carl Jung und Alfred Adler brach.

So erkannte Nietzsche beispielsweise, dass uns in unseren Entscheidungen ein „Fatum“ bindet, das keine Götter braucht. „Fatum ist die unendliche Kraft des Widerstandes gegen den freien Willen“, schreibt der junge Nietzsche. „Das Fatum predigt immer wieder den Grundsatz: ‚Die Ereignisse sind es, die die Ereignisse bestimmen.’“

Anders gesagt: Mit jeder unserer Handlungen und mit jeder Entscheidung, die wir treffen, bewirken wir Ereignisse, die weiter an dem ‚Netz‘ knüpfen, das unsere zukünftigen Handlungen einschränkt und bestimmt.

Ein Beispiel: Wir lassen uns auf eine Beziehung mit einem Narzissten ein, der unser Selbstwertgefühl untergräbt, sodass wir uns unfähig und minderwertig fühlen. Die Beziehung mit ihm zerfällt oder wir schaffen es, uns von ihm zu trennen. Doch unser durch ihn eingeflößtes Gefühl der Minderwertigkeit sabotiert unsere Fähigkeit, allein im Leben zurechtzukommen. Wir glauben, dass wir uns jemanden suchen müssen, der stärker und fähiger ist als wir – und landen wieder bei einem Narzissten.

Das Fatum in der Praxis

In diesem Fall entspricht unser Fatum einer Abwärtsspirale, da uns jedes degradierende Erlebnis tiefer in unsere „Abhängigkeit“ von ungesunden Menschen und Verhaltensweisen führt. Es ließen sich auch neutralere Beispiele für die Wirkungsweise des Fatum anführen. Wer beispielsweise eine funktionierende, gesunde Beziehung eingeht, eröffnet damit eine Matrix möglicher Entscheidungspfade, die außerhalb einer Beziehung nicht existieren (z. B. die Frage, ob man heiraten sollte).

Entscheidet man sich für die Heirat, stellen sich dadurch neue Fragen (z. B., Kinder zu bekommen), was wiederum neue Entscheidungen nötig macht (wie erziehen, wo zur Schule schicken etc.). Ehe man sich versieht, steckt man tief in der Persönlichkeits- und Entscheidungswolke „Elternteil“, deren Konsequenzen man zu Beginn der Reise niemals in ihrer vollen Komplexität überschauen oder ahnen konnte.

Andere Fragestellungen, die gemäß dem „freiem Willen“ auch dem Elternteil rein theoretisch offenständen, stellen sich praktisch nicht mehr, da sie in der Lebensrealität „Elternteil“ nicht mehr relevant erscheinen oder von der „Wolke“ selbst geschaffener Ereignisse verdeckt werden.

Nicht umsonst erleben viele Eltern, dass man plötzlich nur noch mit anderen Eltern Zeit verbringt, ohne dies jemals bewusst entschieden zu haben. Ein Schritt führt zum nächsten, und plötzlich ist man jemand ganz anderes als noch vor ein paar Jahren. Ereignisse führen zu Ereignissen. Das Leben legt für uns keine Pause ein, in der wir uns in Ruhe überlegen dürfen, wer wir eigentlich seien und was wir tun wollen.

Sein Fatum erkennen – und ändern


„Wäre [das Fatum] der einzig wahre Grundsatz, so ist der Mensch ein Spielball dunkel wirkender Kräfte, unverantwortlich für seine Fehler, überhaupt frei von moralischen Unterschieden, ein notwendiges Glied in einer Kette“, schreibt Nietzsche. Ein solches Fatum müsste uns in Fatalismus stürzen, in Gefühle der Macht- und Hilflosigkeit. Doch so ist es zum Glück nicht. Wir können unsere Gegenkraft, den freien Willen, nutzen, um dem, was uns von außen zustößt, etwas entgegenzusetzen.

Entsprecht gewinnt auch Nietzsche dem Fatum etwas ab, dass unserer Entwicklung zugute kommt: „Das Datum nöthigt [uns], indem es [uns] zu beherrschen sucht, zur freien Gegenkraftentwicklung.“ Wir können also unsere Lebensumstände, die uns Schmerz und Leiden verursachen, als Lektionen ansehen, die uns den nötigen Stoß versetzen, um unser Schicksal in die Hand zu nehmen.

Wenn uns tatsächlich eine „Wolke“ oder ein „Netz“ von Ergebnissen unserer früheren Handlungen umgibt, die unsere Entscheidungen im Jetzt bestimmen, bedeutet dies, dass die kleinen und großen Entscheidungen, die wir heute treffen, unsere zukünftigen Optionen bestimmen. Dies kann uns die Zuversicht vermitteln, einen Weg kleiner Schritte in die Richtung, die wir uns wünschen, anzugehen – in der Hoffnung, dass wir später davon profitieren.

Unser Heute beeinflusst unser Morgen

Es ist wichtig, das „Umbiegen“ unseres Fatum langfristig zu betrachten. Wenn wir versuchen, aus ungesunden Verhaltensweisen auszubrechen, ist es leicht, den Mut zu verlieren. Wir sind frustriert, weil sich nicht schnell genug Ergebnisse einstellen. Oder uns bedrückt der Gedanke daran, wie sehr uns unsere Fehler der Vergangenheit immer noch beeinflussen oder wie tief das Loch ist, aus dem wir klettern müssen, um wieder die Sonne zu sehen.

Die Idee des Fatum kann uns helfen, zu realisieren, dass wir heute das Mosaik unserer Zukunft legen. Jede gesunde Freundschaft, an der wir arbeiten, jede überwundene oder zumindest seltener praktizierte schlechte Gewohnheit, jedes bestärkende Erlebnis, ja manchmal sogar jeder einzelne Tag, an dem wir unser Leben wenigstens nicht schlimmer machen, bildet einen neuen Referenzpunkt in der „Wolke“, in der wir morgen unsere Entscheidungen treffen.

Wenig, aber regelmäßig. Langsam, aber Schritt für Schritt. Die Ereignisse in unserem Heute bestimmen die Ereignisse in ein paar Monaten oder Jahren. Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, bestimmen, welche Entscheidungsoptionen uns später offenstehen.

Wir können uns vielleicht nicht aussuchen, was die „nature“-Seite uns mit auf den Weg gegeben hat. Aber das „nurture“, also die Ideen und das Umfeld, die uns prägen, können wir mehr als nur ein Bisschen mitbestimmen. Unser freier Wille ist die Gegenkraft zu unserem Fatum – und unsere Mittel, um mitzubestimmen, was unsere Zukunft bringt.

Mehr Informationen und praktische Übungen, um das Leben selbstbestimmt zu gestalten, finden Sie in meinen Büchern „Sieg über Narzissmus“ und „Neuanfang nach Narzissmus.“


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