Der Kampf gegen den Drachen ist eines der ältesten Motive in der westlichen Mythologie. Oberflächlich kann es uns erscheinen, als stehe er lediglich für den Kampf des Helden gegen das Ungeheuer, des Guten gegen das Böse. Es lohnt sich jedoch, tiefer zu schauen. Dann werden wir sehen, dass es auch in unseren modernen Leben Drachen gibt, die wir bekämpfen und besiegen müssen – und, dass wir, wenn wir nicht aufpassen, selbst der Drache werden können.
Wofür steht der Drache?
Evolutionär betrachtet, verkörpert der Drache alles, was unsere Primaten-Vorfahren als lebensbedrohlich empfanden. Affen im Urwald haben drei Haupt-Fressfeinde zu fürchten: Raubkatzen, Raubvögel und Schlangen. Der Drache kombiniert die bedrohlichsten Aspekte aller drei: Die Reißzähne der Katze, die Flügel und Klauen des Adlers und die Körperform der Schlange. Mit dem Feuer, dass er spuckt, bringt er zudem noch das Element der Vernichtung mit sich – und des Lebens.
Wie die Sonne mythologisch (und durchaus berechtigt) als Quelle des Lebens wahrgenommen wird, ist das Feuer, die menschgemachte, vom Menschen beherrschbare „Sonne“, gleichzeitig Element des Erhalts (als Wärme- und Lichtquelle und zur Nahrungszubereitung) als auch der Zerstörung (als fressender Brand).
Dieser scheinbare Gegensatz weist uns in die Richtung eines ebenfalls scheinbar gegensätzlichen Elements des Drachens: Das Feuer, mit dem er uns verbrennen kann, ist unter anderen Umständen das Element unserer Rettung. Die Legenden verorten im Hort des Drachen also nicht nur die größtmögliche Gefahr, den ultimativen Gegner – sondern zugleich den Ort der größtmöglichen Belohnung.
Der westliche Drache schläft nicht irgendwo, sondern auf einem Schatz. Doch woher kommt diese Assoziation tödlicher Bedrohung mit potenziellen Reichtümern?Evolutionsbiologisch ist sie keineswegs selbstverständlich, sondern geradezu konterintuitiv. Wenn ein Affe einen Löwen sieht, überlegt er nicht, wo wohl dessen Höhle liegt und wie er sie erreichen kann, sondern er läuft schreiend davon.
Der Held und der Drache
Der Held sucht den Drachen aktiv auf, um ihn zum Kampf herauszufordern, zu töten und den Schatz zu gewinnen, den der Drache bewacht. Gleiches gilt für den Kampf mit unseren persönlichen Dämonen in unserer Psyche: Um unsere tiefsten Ängste und Unsicherheiten zu überwinden, hilft es nicht, vor ihnen davonzulaufen. Um sie ultimativ zu besiegen, müssen wir sie konfrontieren.
Genau wie die Reise des Helden in den Geschichten, erfordert dies von uns Vorbereitung, Geduld und die Unterstützung fähiger Begleiter. Dazu gehört, sich erst einmal bewusst zu werden, wo unser Drache lauert – also was genau uns bedroht und sabotiert. Anschließend geht es daran, sich auf die Begegnung vorzubereiten. Dies kann etwas durch Recherche zu dem Thema, Meditation oder eine Therapie erfolgen.
Entsprechend können der „weise alte Mann (oder die Frau), die uns auf den Kampf vorbereiten, enge Freunde, vertraute Familienmitglieder oder Therapeuten sein. Wie in den Legenden gilt jedoch auch für uns: Den Kampf selbst kann uns niemand abnehme. Um ihn anzugehen, hilft nur Mut, das Vertrauen in unsere erworbenen Fähigkeiten – und der Glaube, dass auf der anderen Seite des Kampfes etwas Lohnenswertes auf uns wartet.
Möglicherweise waren Ihnen all diese symbolischen Aspekte des Drachenkampfes und ihre Bedeutung für unsere psychischen Herausforderungen bereits bekannt. Weniger bekannt ist jedoch ein weiteres Phänomen, vor dem die Drachen-Mythologie uns warnt: Nämlich, dass wir selbst zum Drachen werden.
Die tragische Seite des Drachen
Es ist leicht, den Drachen als einen externen Feind zu sehen, den wir überwinden müssten, oder ihn zumindest auf „negative“ Aspekte unserer Persönlichkeit zu reduzieren, die uns schaden und die wir bekämpfen müssen. Wie bei vielen mythologischen Elementen lohnt es sich jedoch, einen mutigen – und oft schmerzhaften – Schritt weiterzugehen und uns zu fragen: Inwieweit verkörpere ich in meinem Leben das schädliche oder böse, vor dem die Geschichte warnt?
Joseph Campbell, einer der berühmtesten Mythologie-Forscher des 20. Jahrhundert und Autor des Buches „Der Heros in tausend Gestalten“ macht dazu folgende Bemerkung: Der europäische Drache bewacht in den Legenden zwei Arten von Schätzen: Gold oder eine Jungfrau. Beide sind, aus menschlicher Perspektive betrachtet, von hohem Wert. Sie versprechen demjenigen, der sie dem Drachen abringt, Macht, Ansehen, Liebe, Frieden, sowie den Fortbestand seiner Blutlinie und erfüllen damit nachvollziehbare Bedürfnisse.
Campbell (Link führt zu einem Interview in englischer Sprache) weist auf einen weiteren entscheidenden Aspekt hin: Für den Drachen haben beide Schätze keinerlei Nutzen. Er kann weder (lapidar gesprochen), mit dem Gold in ein Geschäft gehen, um sich etwas zu kaufen, noch kann er die Jungfrau heiraten. Warum also verbringt er sein gesamtes Leben damit und verwendet all seine Energie darauf, diese vermeintlichen Schätze zu bewachen?
Laut Campbell mahnt uns dieser Aspekt der Legende vor der ungesunden Drachen-Seite uns selbst. Der Drache hat sich einer Aufgabe verschieben, die sich auf Bewahren und auf Festhalten von Dingen begründet; die ihn dabei in einer dunklen Höhle festhält, meistens schlafend, sonst voller Argwohn, Eifersucht und Menschenfeindlichkeit.
Er will einfach nur besitzen, um zu besitzen – obwohl die Dinge, die er zu besitzen meint, ihm überhaupt nichts nutzen. Man kann auch sagen: Er krallt sich an Dinge, von denen er glaubt, dass sie auch für ihn etwas wert sind – nur, weil andere sie als etwas Wertvolles behandeln.
Das Drachen-Element in uns
Ebenso können auch wir zu „Drachen“ werden, wenn wir nicht regelmäßig reflektieren, ob das, was wir verfolgen und was wir unser Leben bestimmen lassen, wirklich unserer Veranlagung und unseren Zielen dient. Möglicherweise setzten wir unsere Kraft für etwas ein, nur weil andere (oder sogar alle anderen) es behandeln, als wäre es sehr wertvoll.
Vielleicht kommen wir aus einem Elternhaus, in dem nicht genug Geld da war. Wir haben geschworen, niemals zuzulassen, dass wir oder unsere Kinder finanzielle Not leiden müssen. Wir haben uns eine Karriere aufgebaut, hart gearbeitet, gespart – alles mit gutem Grund und guter Absicht.
Doch nicht umsonst gibt es genug Beispiele von Menschen, die über ihre Karriere oder ihre finanzielle Absicherung ihre Familie aus den Augen verloren haben – sie sehen ihre Partner nicht mehr, vernachlässigen ihre Kinder, kapseln sich vom realen Leben und realen menschlichen Bedürfnissen ab, und glauben dabei immer noch, in Wahrheit für etwas Gutes oder sogar zum Wohle anderer zu arbeiten.
Geld, Arbeit und Karriere können leicht zu Selbstzwecken verkommen und den oder die Arbeitende in einen „Drachen verwandeln, der nur noch einem abstrakten, vom Leben akgekoppelten System dient – mit der Tragik, dass gerade die Menschen ihn verlassen, denen er eigentlich meint, zu dienen. Jedoch hat er dabei unbemerkt seine Menschlichkeit verloren.
Der entkoppelte „Karrieretyp“ ist dabei noch eine Art von Entfremdung, die einfacher zu erkennen ist, nicht zuletzt, weil uns diverse romantische Komödien und Hollywood-Filme vor diesem Szenario warnen. Die „Drachen-Werdung“ kann jedoch auch in anderen Lebensbereichen auftreten.
Verdeckte Alltags-Drachen
Die Mutter, die sich so viel Stress damit macht, „perfekte“ Familienfeste zu organisieren, dass sie beim eigentlichen Fest mental gar nicht anwesend ist und es nicht genießen kann – was dazu führt, dass sich ihre Familie von ihr nur als „Aufgabe“ wahrgenommen fühlt, nicht als Menschen gesehen und gefühlt.
Der Partner, der ins Fitnessstudio geht, um für seine Partnerin attraktiv zu werden, aber sich dabei in Zahlenabstraktionen von Wiederholungen, Gewichten, Maßen, Bestmarken und so weiter verliert. Das Kind aus schwerem Elternhaus, das sich als Erwachsener bemüht, einem Elternteil endlich die Urlaube und Familienfeste zu bieten, die früher nicht möglich waren – und sich dabei derart aufreibt, dass das umsorgte Elternteil glücklicher wäre, wenn sich das Kind stattdessen um sich selbst kümmern und einfach nur leben würde.
Die meisten „Drachen-Werdungen“ starten mit guten Intentionen. Sie führen zur Versteinerung und zum rigiden Höhlen-Dasein, wenn sie über das ursprüngliche Ziel hinausschießen oder sich so sehr auf nur eine Dimension im Leben konzentrieren, dass alle anderen Aspekte darunter leiden und die Balance verloren geht.
Reflektion als Gegenmittel
Es ist einfacher, klassische „Laster“ an uns aufzuspüren, also Verhaltensweisen, die erkennbar unseren Werten widersprechen oder unsere Ziele sabotieren, also solche, die wir einmal aus gutem Grund begonnen haben. Ein guter Weg, um der „Verdrachung“ unseres Selbst und unserer Lebensbereiche entgegenzuwirken, ist daher regelmäßige Reflektion.
Dafür kann es schon genügen, uns zum Beispiel zum Jahreswechesel oder an unserem Geburtstag hinzusetzen und zu überlegen: Womit verbringe ich meine Zeit? Worin investiere ich meine Energie und meine Nerven? Dies kann darin bestehen, uns mit Zettel und Stift hinzusetzen, eine Liste zu machen, unseren Kalender oder unsere Erinnerungen des zurückliegenden Jahres zu überfliegen und zu überlegen: Wie verteile ich meine Ressourcen wirklich?
Wichtig ist, dabei ein möglichst realistisches Bild herzustellen, nicht etwas ein Wunschbild (denn wir sind sehr gut darin, uns selbst zu täuschen). Anschließend können wir uns fragen: Reflektiert die Verteilung meiner Energie in der Wirklichkeit, welche Dimensionen mir wichtig sind? Oder stecke ich übermäßig viel Zeit und Nerven in Dinge, die mir eigentlich nicht (oder nicht mehr) wichtig sind?
Es ist wichtig, dass wir dabei behutsam mit uns sind und uns keine Vorwürfe machen. Wie gesagt: Viele unserer Verhaltensweisen dienten früher einem guten Zweck. Aber trifft dieser Zweck immer noch zu? Oder haben wir vielleicht in letzter Zeit Erkenntnisse gewonnen, aus denen wir lernen können, die Wichtigkeit eines Bereiches herauf- oder herabzusetzen?
Ein weiteres, alltägliches Mittel ist die Meditation. Wenn wir uns still hinsetzen und uns eine Weile auf unseren Atem oder ein Mantra konzentrieren, steigen häufig Dinge an unsere Gedankenoberfläche, die wir im Alltag unterdrücken. Dazu gehören sowohl alltägliche Aufgaben als auch schmerzhafte Punkte, die wir immer wieder verdrängen. Wenn wir darauf achten, was aus unserer Tiefe hervorkommt und uns Notizen machen, können wir Muster entdecken.
Dem Unbewussten Raum geben
Das Gleiche gilt für Träume. Des Pychiater Carl Gustav Jung empfiehlt das Führen eines Traum-Tagesbuchs. Er war der Meinung, das Träume die Sprache unseres Unbewussten sind, mit denen es sich uns mitteilen will. Wenn wir uns regelmäßig morgens nach dem Aufwachen notieren, was wir geträumt haben, verbessern wir nicht nur unsere Fähigkeit, uns an unsere Träume zu erinnern – wir bekommen auch die Möglichkeit, Muster zu erkennen und „drängende“ Botschaften dazu, wo in unserem Leben uns „der Schuh drückt“, wahrzunehmen und Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Ein waches Bewusstsein, Achtsamkeit und Raum für nicht zielfokussiertes Denken sind Mittel, um unserer „Verdrachung“ entgegenzuwirken und unser Schicksal zu ändern. Niemand von uns sollte seine Lebenszeit darauf verschwenden, im Dunkeln auf einem sprichwörtlichen Goldhaufen zu liegen – schon garnicht, wenn wir uns an Schätze klammern, die uns eigentlich nicht nützen.
Mehr Informationen und eine Anleitung, wie man auf seine eigene Heldenreise geht, finden Sie in meinen Büchern „Sieg über Narzissmus“ und „Neuanfang nach Narzissmus.“


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