Man spricht von „Gaslighting“, wenn jemand Sie gezielt so beeinflusst, dass Sie Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit anzweifeln und stattdessen die Version akzeptieren, die dieser jemand Ihnen einredet.

Oft erscheint es normalen Menschen unglaublich, mit welcher Dreistigkeit Narzissten ihren Zielpersonen Dinge einreden, ihre Zweifel zerstreuen und haarsträubende Erklärungen auftischen, von denen sich Betroffene im Nachhinein fragen: Wie konnte ich das nur glauben? Dies liegt daran, dass das Gaslighting eines Narzissten mit gewöhnlichen Vorstellungen von Logik und nicht zu begreifen ist.

Der Narzisst befindet sich in einem dissoziierten, von sich selbst abgespaltenen Bewusstseinszustand. Er unterliegt daher nicht den gesunden Einschränkungen im Umgang mit anderen, die unser eigenes Verhalten prägen. Ein nicht-narzisstischer Mensch, dessen Selbst- und Wirklichkeitsbild mit der Realität in Konflikt gerät, spürt einen Anflug von Scham und ändert seine Handlungen oder Annahmen, um seine innere und äußere Welt anzugleichen. Seine Ziele sind Ausgleich, Kooperation und Handlungsfähigkeit.

Verletzt etwas, das er getan hat, einen anderen Menschen, nimmt er dies empathisch wahr und versucht beim nächsten Mal, anders zu handeln. Er versucht, seine legitimen Interessen so zu verfolgen, dass er die Bedürfnisse anderer in seinem Umfeld berücksichtigt. In anderen Worten: Er spürt eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und folgt der Goldenen Regel, andere so zu behandeln, wie er selbst von ihnen behandelt werden möchte.

Bei einem Narzissten hingegen ist dieser Prozess umgekehrt. Bei ihm erfolgt die Anpassung immer nur in eine Richtung: Wenn etwas seinem Welt- oder Selbstbild widerspricht, muss sich die Außenwelt ändern. Seine innere Realität muss unangetastet bleiben. Falls nötig, muss er die Außenwelt so lange bearbeiten, bis sie sich verbiegt. Genau hier kommt Gaslighting ins Spiel.

Das Chaos hinter narzisstischem Gaslighting

Auch wenn es Betroffenen vermutlich wenig Erleichterung bietet: Das Gaslighting des Narzissten ist nichts Persönliches. Es ist die Folge seiner inneren Zerrissenheit und seine einzige Möglichkeit, mit der Wirklichkeit umzugehen. 

Da der Narzisst in seinem tiefsten Inneren von überwältigender Angst getrieben ist, Teile von sich ablehnt und über kein kohärentes Selbstgefühl verfügt, empfindet er die widersprüchlichen Informationen und Gefühle, die das tägliche Leben mit sich bringt, als existenzielle Bedrohung. Seine chaotische innere Welt droht ständig, ihn zu überwältigend und er sieht sich in einem permanenten Kampf, sie zu ordnen und ihr einen Sinn zu geben.

Ein Mittel, um den Herausforderungen der Wirklichkeit zu entkommen, liegt in Dissoziation – der Narzisst „verabschiedet“ sich von der Realität und zieht sich in seinen Kopf zurück. Gleichzeitig muss er, um seine Macht zu erhalten und zu erweitern, nach außen hin „normal“ und sogar überlegen erscheinen.

Dissoziation hat jedoch reale Konsequenzen. Das „Auschecken“ aus der Wirklichkeit führt häufig dazu, dass der Narzisst Aspekte seiner Existenz nicht bewusst wahrnimmt oder diese für ihn nicht „abrufbar“ sind – beispielsweise in der Form von Gedächtnislücken bezogen auf bestimmte Episoden. 

Der Narzisst flieht vor sich selbst

Wie man sich denken kann, ist die Erkenntnis, dass bestimmte Abschnitte des eigenen Lebens einfach „fehlen“, entsetzlich. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, besteht darin, die Lücken zu füllen, indem man erfindet, was in ihnen angeblich geschehen ist. Die Fiktion wird umso überzeugender, wenn man auch andere überzeugen kann, diese Version der Ereignisse zu glauben.

Für Betroffene, die sich aus der Manipulation eines Narzissten befreit haben, ist es im Rückblick oft erschütternd, wie abstrus die Geschichten waren, mit denen sich der Narzisst seine eigene Version der Realität geschaffen hat – und die er oft auch seiner Zielperson so lange eingeredet hat, bis diese nicht mehr anders konnte, als sie zu glauben.

Die Geschichten der Narzissten unterliegen keiner rationalen Logik. Sie brauchen keinen überzeugenden Zusammenhang und basieren nicht auf echten Gefühlen. Wie Frankensteins Monster, bastelt der Narzisst seine Realität aus allen möglichen Elementen zusammen. Ihm ist jeder Trick und jede Lüge recht, solange sie nur funktionieren.

Besonders überzeugend werden die Geschichten dadurch, dass der Narzisst selbst glaubt, sie seien wahr. Streng genommen lügt er also nicht einmal, wenn er eine Fiktion kreiert und Gaslighting betreibt – er erschafft einfach eine „alternative“ Wahrheit.

Beispiele für das Gaslighting des Narzissten

Betroffene von Narzissmus kennen möglicherweise folgende Arten, auf die Narzissten Gaslighting betreiben:

  • Leugnen: Der Narzisst stellt Ihre Erinnerungen in Frage und argumentiert gegen Ihre Interpretation bestimmter Ereignisse. Dies kann auf subtile Weise geschehen („Bist du sicher, dass ich das so gesagt habe?“) oder Sie direkt herausfordern („Das ist nicht wahr!“).
  • Die Schuld umdrehen: Sie drücken Ihre Verzweiflung darüber aus, dass Sie sich vom Narzissten schlecht behandelt fühlen. Er reagiert, indem er aufzählt, wie oft Sie ihn (angeblich) schlecht behandelt haben. Möglicherweise macht er einen Kommentar wie: „Wenn ICH DICH jedes Mal darauf hinweisen würde, wenn DU MICH so behandelst …“. Auf diese Weise impliziert er, dass er Ihnen die ganze Zeit alles Mögliche „durchgehen“ lässt.
  • Trivialisierung: Fühlen Sie sich durch etwas verletzt, das der Narzisst gesagt oder getan hat, wehrt er Ihren Schmerz ab, indem er behauptet, nur gescherzt zu haben. Möglicherweise wirft er Ihnen vor, Sie seien zu sensibel oder meint, Sie sollten nicht aus allem im Leben so ein Drama machen. 
  • Ablenkung: Ist ihm ein Gespräch unangenehm, versucht der Narzisst oft, das Thema zu wechseln. Wehren Sie ich dagegen, fragt er, ob Sie die Sache nicht einfach vergessen und mit Ihrem Leben weitermachen können. Vielleicht beschämt er Sie auch, indem er anmerkt, wie wunderbar Ihre Beziehung sein könnte, wenn Sie endlich aufhören würden, sich ständig über Kleinigkeiten aufzuregen. Indem er sich so als „vernünftig“ darstellt und einen „schnellen und einfachen“ Weg aus dem Konflikt aufzeigt, stehen Sie plötzlich als der oder die Streitlustige dar.
  • Diffuses Mitgefühl: Mitten in einer Auseinandersetzung sagt der Narzisst plötzlich, dass er Sie liebt und lamentiert, wie schlimm es für Sie beide ist, dass Sie sich streiten. Möglicherweise fühlen Sie sich dadurch beruhigt, sehnen die „guten Zeiten“ zurück und fühlen sich versucht, das Streitthema fallen zu lassen, um endlich wieder einfach nur zu lieben.

Das DARVO-Arsenal

Gaslighting ist ein Verteidigungsmechanismus des Narzissten, um das „Einbrechen“ der äußeren Realität in seine innere Wirklichkeit abzuwehren. Er würde es nicht ertragen, vor sich selbst als jemand dazustehen, der emotionalen Missbrauch betreibt oder andere manipuliert. Solche Schattenseiten passen nicht in sein perfektes Selbstbild.

Aus diesem Grund tut er alles, um mögliches Missverhalten seinerseits „wegzuerklären“ und stattdessen Sie als den wahren Übeltäter darzustellen.

Die amerikanische Psychologin Jennifer Freyd hat dafür das Akronym „DARVO“ geprägt. Im Englischen steht es für „deny, attack, reverse roles, victim, offender“, auf Deutsch „Leugnen, Angreifen, Rollentausch, Opfer, Täter“. Es beschreibt die perfide Form des Gaslighting, die ein Narzisst anwendet, um seinem inneren Schatten zu entkommen und eine Situation so umzuinterpretieren, dass er als das unschuldige Opfer dasteht.

Auch hier ist wieder wichtig, sich bewusst zu sein, dass man gegenüber einem Narzissten nicht mit Logik argumentieren kann. Er lebt ganz einfach nicht in derselben Realität wie Sie. Daher können Sie auch nicht gewinnen, wenn Sie sich auf sein Spiel einlassen.

Der Narzisst hat sowohl den Willen als auch die Energie und die Geduld, Sie in einen Kreislauf des Unsinns zu verwickeln, den er so lange aufrechterhält, bis Sie sich geschlagen geben. Er leugnet oder spielt herunter, was Sie ihm vorwerfen und dreht das Gespräch um, indem er Ihre angeblichen Missetaten in den Mittelpunkt stellt. Plötzlich finden Sie sich in einer Auseinandersetzung wieder, die sich darum dreht, wie es ihm geht und was er durchmachen muss – und das alles wegen Ihnen.

Projektive Identifikation

Um sein perfektes Selbstbild zu beschützen, in welchem er fehlerlos und gut ist, kann der Narzisst nur Emotionen zulassen, die zu einer „überlegenen“ Persönlichkeit passen. Scham, Schuld, Traurigkeit, Zweifel und Wut sind dabei inakzeptabel.

Regen sich diese Gefühle in ihm, schützt sich der Narzisst, indem er sie auf andere ablädt und ihnen die Verantwortung zuschiebt. So kann er seinen inneren Schatten effektiv verleugnen. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein prägte hierfür den Begriff „projektive Identifikation“.

Projektive Identifizierung erfolgt auf verdeckte Art und beginnt in der Regel mit einem harmlosen Gespräch. Nach und nach mischt der Narzisst Werturteile mit ein und lässt Hinweise durchscheinen, welche Dinge Sie angeblich falsch machen. Nicht selten entwickelt sich ein solcher Austausch zu einem hypnotischen Monolog.

Oberflächlich betrachtet, scheint es sich um ein gewöhnliches Gespräch zu handeln. Dennoch fühlen Sie sich, da der Narzisst Elemente wie Subtext und ein immer weiter abdriftendes Hauptthema einsetzt, in ein immer schlechteres Licht gerückt. Dies erfolgt oft so subtil, dass Sie unbewusst die Rolle des „Bösen“ und „Schuldigen“ auf sich nehmen, wobei Sie glauben, ein ganz normales Gespräch zu führen.

Gerade dadurch, dass nichts offensichtlich Missbräuchliches geschieht, fühlen Sie sich oft umso schuldiger, weil Sie leiden und frustriert sind, ohne genau sagen zu können, warum.

Reaktiver Missbrauch

Projektive Identifizierung führt typischerweise zu „reaktivem Missbrauch“. Die Zielperson nimmt hierbei die „Schattengefühle“ des Narzissten auf sich und lebt sie aus – ohne bewusst zu begreifen, wie es dazu kam.

Betroffene werden von Narzissten oft so lange durch die oben genannten Methoden immer weiter in ein Gefühl der Scham und Unzulänglichkeit getrieben, bis der Druck irgendwann zu viel wird und sie explodieren.

Genau auf den Moment hat der Narzisst gewartet: Sobald seiner Zielperson der Kragen platzt, kann er mit dem Finger auf sie zeigen und sagen: „Siehst du? Genau das meine ich: Du bist hier der (oder die) Böse!“

Auf diese Weise erreicht er gleich mehrere Ziele:

1. Er entlastet sich selbst von seinen negativen Charakterzügen und Emotionen.

2. Er gewinnt moralisch die Oberhand, und,

3. er bestärkt sein Selbstbild, indem er gut, unschuldig und ein Opfer anderer ist.

Zu allem Überfluss zwingt der Narzisst seine Zielperson dazu, sich selbst die Schuld für den entstehenden Streit zu geben. Sie hat keine Ahnung, wie es zu der Situation gekommen ist und, dass es das schleichende Gift des Narzissten war, welches sie so zum Kochen gebracht hat. Für sie sind die Verwirrung und die Schmerzen zum Verrücktwerden.

Der einzige Weg, mit dem Drama umzugehen

Gaslighting funktioniert, weil es Betroffene meist unvorbereitet erwischt. Scheinbar aus heiterem Himmel finden sie sich in der Defensive wieder, hinterfragen sich oder fühlen sich in einer Diskussion gefangen, in der sie einen Punkt verteidigen, der keinen Sinn ergibt. Sie fühlen sich verwirrt, wütend, entrüstet und in ihrer Selbstwahrnehmung erschüttert.

Ein Grund dafür ist, dass wir dazu tendieren, unser Gegenüber so zu sehen, als wäre es im Grunde wie wir. Wir versuchen, unsere Maßstäbe von Fairness, Logik und Kooperation auf andere zu übertragen. Noch einmal muss daher betont werden: Ein Narzisst denkt nicht wie Sie. Sein Vorgehen ist mit dem „normalen“ Verstand nicht zu begreifen.

Seine wilden und zufälligen Episoden folgen keiner Logik. Ebenso wenig können Sie es ihm durch „richtiges“ Verhalten rechtmachen. Gaslighting und das vom Narzissten erzeugte Drama sind keine Probleme, die gelöst werden müssen. Es sind Symptome für das Bedürfnis des Narzissten, die Realität so zu gestalten, dass sie seinem zersplitterten inneren Zustand entspricht.

Schamvermeidung, der Drang nach Aufmerksamkeit, Ablenkung, Langeweile, Grandiosität oder einfach nur der Wunsch, seinen Willen durchzusetzen – die Motive für Gaslighting sind vielfältig. Sie können sich das Hirn zermartern, wie Sie wollen, um die vom Narzissten immer wieder aufgeworfenen Probleme zu lösen – oder Sie entscheiden sich für eine andere Option.

Nicht mehr mitmachen

Sie weigern sich, sein Spiel weiter mitzuspielen. Sie lösen sich aus seiner Verstrickung und entscheiden sich für einen Weg, den er nicht gehen will: Den der geistigen Gesundheit und Vernunft.

Sie atmen tief durch und verwurzeln sich in Ihrer inneren Wahrheit. Sie hören auf die Stimme, die Ihnen schon lange sagt: Genug ist genug! Natürlich steht es Ihnen frei, weiter im Schleudergang des Wahnsinns zu bleiben, den der Narzisst für Sie kreiert. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Und Sie haben jederzeit die Freiheit, sie zu treffen.

Wenn Sie mehr erfahren möchten, bieten Ihnen der Ratgeber „Sieg über Narzissmus“ eine praktische Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Überwindung von Narzissmus. Der Nachfolger, „Neuanfang nach Narzissmus“, hilft Ihnen, nach Ihrer Befreiung vom Narzissten Ihr eigenständiges Leben neu aufzubauen.

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