Eine narzisstische Beziehung ist vor allem eines: das Versprechen eines „perfekten“ Lebens, ohne die Einschränkungen, denen normale Menschen unterliegen. Der Narzisst ist geschickt darin, Ihre Sehnsüchte und Ihr „magisches“ Denken zu wecken. Insgeheim hoffen wir darauf, nicht nach den Regeln der Welt spielen zu müssen.

Ein Narzisst vermittelt Ihnen gleich zu Anfang Ihrer Beziehung, dass das Abenteuer Ihres Lebens auf Sie wartet, wenn Sie sich auf ihn einlassen. Möglicherweise malt er Ihnen bildhaft aus, wie Sie zusammen die Welt bereisen werden, die perfekte Liebe finden oder eine glückliche Familie gründen.

Sie lassen sich auf seine Versprechungen ein. Sie glauben, dass Sie sich mit ihm immer beschützt und umsorgt fühlen werden. Dass Sie zusammen reich werden, immensen Status gewinnen oder die Welt verändern werden. Alles fühlt sich luftig-leicht an, als könnten Sie die Fesseln der Wirklichkeit abwerfen und etwas schaffen, das die Welt noch nie zuvor gesehen hat.

Der Beginn der Fantasie

Diese grandiose Vision hat System. Im Reich des Narzissten gibt es keine Begrenzungen. Geld, Sex, Macht, Status, Ruhm, Wunder, Zugehörigkeit und Liebe sind im Überfluss vorhanden. Der Narzisst glaubt, dass er über die Realität „erhaben“ ist. Er lebt in einem dissoziierten Geisteszustand, der mehr einem Traum als der Wirklichkeit entspricht. Zugleich unterliegt das, was er verspricht, keiner Kontinuität: Welche zukünftigen Fantasien er Ihnen und sich selbst einredet, kann jederzeit geändert werden.

Indem er Sie scheinbar über die Welt des Alltags erhebt, weckt er in Ihnen ein Gefühl völliger Verschossenheit in ihn. Ihre inneren Sehnsüchte springen auf sein „Erlösungsversprechen“ an. Wahrscheinlich sehen Sie in ihm Ihren Retter und fühlen sich von ihm regelrecht besessen. Ihr Herz will vor Freude und Bewunderung zerspringen, sobald Sie auch nur an ihn denken.

Dieser Zustand der Besessenheit ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  • Aufdringliche Gedanken: Der andere geht Ihnen vom ersten Aufwachen bis zum Einschlafen nicht aus dem Kopf. Den ganzen Tag über denken Sie an ihn, ob Sie wollen oder nicht. Ist er nicht da, haben Sie das unwiderstehliche Bedürfnis, mit ihm zusammen zu sein.
  • Dramatische Veränderung Ihrer Prioritäten: Sie stellen Ihre Hobbys, Ihre Freunde und sogar Ihre Familie oder Ihre langfristigen Pläne zurück, um Ihr Leben mit Ihrer Bezugsperson überein zu bringen.
  • Emotionale Abhängigkeit: Sie tun alles, um die Anerkennung des anderen zu gewinnen und zu erhalten. Dabei haben Sie unglaubliche Angst, etwas falsch zu machen, was den anderen verärgern und „alles ruinieren“ könnte. Sie interpretieren jede Aussage und Entscheidung, jeden Unterton und Gesichtsausdruck des anderen auf Anzeichen, dass Ihre „perfekte“ Beziehung plötzlich in die Brüche gehen könnte.

Von ’normal‘ zu ‚ungesund‘

In einer romantischen Beziehung wird Besessenheit oft mit Liebe verwechselt. Wir glauben, endlich „den Richtigen“ oder „die Richtige“ gefunden zu haben und tun alles, um ihn oder sie festzuhalten. Dabei übersehen wir, dass wir oft eine tief verankerte Prägung aus unserer Kindheit ausleben: eine unreife Form der Liebe, die im Englischen „Splitting“, Aufspaltung, genannt wird.

Besonders Menschen, bei denen eine negative frühkindliche Erfahrung durch ein Trauma verstärkt wird, tendieren dazu, im Erwachsenenalter Besessenheit mit einer Bezugsperson zu entwickeln. Wir projizieren die Illusion eines göttlichen, perfekten Wesens auf den anderen und blenden seine menschlichen Fehler und Schwächen aus. Auch Empathen sind besonders anfällig für die Spiele des Narzissten.

Der Hauptunterschied zwischen Liebe und Besessenheit besteht darin, dass Liebe aus einer inneren Fülle kommt, während Besessenheit aus Mangel erwächst. Anders gesagt: Wenn wir nie gelöste kindliche Prägungen ins uns tragen und dann jemandem begegnen, der Eigenschaften zu besitzen scheint, die wir an uns selbst vermissen, entsteht in uns ein Gefühl der Besessenheit, das uns zwingt, mit ihm zu „verschmelzen“.

Wir verspüren den Drang, unsere eigene Identität und Individualität im anderen aufgehen zu lassen, uns in ihm „aufzulösen“ und dadurch an seiner scheinbaren Perfektion teilzuhaben. Am häufigsten geschieht dies in einer romantischen Beziehung. Jedoch kann das Phänomen auch in einer Freundschaft, auf der Arbeit oder in unserer persönlichen Entwicklung auftreten, etwa gegenüber einem „coolen“ Freund mit hohem Status, einem beeindruckenden Vorgesetzten oder einem Therapeuten oder Coach.

In all diesen Fällen empfinden wir Besessenheit, weil wir glauben, dass der andere uns „vollkommen“ machen kann, sodass wir uns endlich „ganz“ fühlen. Möglicherweise springen derartige Gefühle, wenn wir mit ihm zusammen sind, tatsächlich auf uns über und wir tun alles, um diesen Zustand zu erhalten.

Wie der Narzisst die Fantasie nährt

Ein normaler, verantwortungsvoller Mensch wird unser Verhalten vielleicht bemerken und uns sanft, aber respektvoll davon abhalten, ihn zu verehren und zu vergöttern. Ein Narzisst hingegen triumphiert innerlich, sobald er sich bewusstwird, welche Macht er über uns ausübt. Er tut alles, um unsere Besessenheit anzufeuern, indem er beispielsweise die Rolle des perfekten Liebhabers, Gurus oder Erlösers spielt.

Von der Fantasie mitgerissen, geraten wir in einen tranceähnlichen Zustand. Unsere inneren Grenzen und unser gesunder Sinn für Skepsis werden weggespült. Die „Verschmelzung“ mit dem Narzissten wird immer stärker. Regeln, Abwägung, Innen und Außen – nichts davon spielt mehr eine Rolle. Das Fantasiereich des Narzissten scheint sicher und zugleich aufregend, gegen die widrige Außenwelt abgegrenzt und zugleich alles zu enthalten, was wir uns je wünschen könnten.

Der Zustand, in dem wir uns befinden, erscheint zeitlos, sorglos und, als würde er für immer anhalten – bis die Illusion zerbricht.

Irgendwann kommt zwangsläufig der Punkt, an dem die Seifenblase platzt. Auf welche Art auch immer: Wir erkennen plötzlich, dass wir einer Illusion verfallen waren – einer geteilten Fantasie, die der Narzisst für uns kreiert hat und die nichts mit der Realität zu tun hat.

Wie konnte es so weit kommen? Wie konnten wir uns so weit von der Wirklichkeit entfernen? Vereinfacht gesprochen: Der Narzisst hat uns eine Fantasie verkauft, in die wir uns bereitwillig ergeben haben, weil wir es so wollten. Tief in unserem Inneren haben wir uns nach einer Welt gesehnt, in der seine Versprechen von Perfektion möglich sind.

Der perfekte, sexy Partner. Das perfekte, glückliche Zuhause. Vollkommen so akzeptiert zu werden, wie wir sind: Diese Verlockungen wirken umso stärker, wenn wir bisher in unserem Leben nicht viel Gutes erleben durften. 

Die Fantasie betrauern

Gerade diejenigen, die aus einem gestörten Elternhaus kommen oder eine schwere Kindheit hatten, sehnen sich nach einem Ausgleich – endlich das zu bekommen, was ihnen immer vorenthalten war. Wenn man einen emotional abwesenden Elternteil ertragen musste, erscheint die Vorstellung eines einfühlsamen, liebevollen Partners unwiderstehlich.

Solange wir von der scheinbaren Perfektion des Narzissten geblendet sind, fällt es uns schwer, uns daran zu erinnern, wie Beziehungen in der Wirklichkeit funktionieren. Jeder Mensch ist unvollkommen, hat Schwächen, Wunden und Persönlichkeitsaspekte, die für andere schwer zu ertragen sind. Es erfordert harte Arbeit, eine stabile und erfüllende Beziehung aufzubauen und zu pflegen.

Partner oder Partnerinnen haben eigene Wünsche, Überzeugungen und Werte, die mit den unseren kollidieren können. Alle Beziehungen machen Phasen der Spannung und des Schmerzes durch. Auch Routine und Langeweile sind nicht zu einhundert Prozent vermeidbar.

Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein, aber Narzissten sind Experten darin, uns das Gegenteil einzureden.

Als der Narzisst in unser Leben trat, blitzte ins uns die Hoffnung auf eine perfekte Verbindung auf, die uns in eine glückliche Zukunft führen würde. Wir sehnten uns nach Perfektion, weil wir vorher so viel menschliche Gebrochenheit ertragen mussten. Und der Narzisst war genau der Richtige, um sie uns zu versprechen. 

Der Narzisst tut nicht nur so, als wäre er perfekt – er glaubt es sogar. Egozentrisch wie er ist, betrachtet er sich selbst als fehlerlos und seine Beziehung als Erweiterung dieser Perfektion. Seine Überzeugung, allmächtig und vollkommen zu sein, ermächtigt ihn, genau die Illusion zu schaffen, nach der wir uns sehnen. Aber genau diese seiner Charaktereigenschaften bringen sie auch irgendwann zu Fall.

Der Narzisst kann nichts zulassen, was darauf hinweist, dass er möglicherweise nicht allmächtig und perfekt ist. Wenn also unvermeidlich Reibungen und Belastungen einer Beziehung auftreten, gibt es für ihn nur eine Art, zur reagieren: Er beschuldigt Sie.

Der wahre Preis der Beziehung

Alles, was an der Beziehung langweilig, störend oder unbefriedigend ist, lastet er Ihnen an. In seinen Augen haben Sie ständig etwas falsch gemacht. Doch so sehr Sie sich auch bemühen, es ihm recht zu machen: Er legt die Messlatte immer höher und stellt immer neue Anforderungen, bis Sie sich total erschöpfen. Trotzdem spielen wir das Spiel des Narzissten mit und lassen uns die Behandlung gefallen.

Der Grund ist:Eine traumatisierte Seele ist von der Wirklichkeit schnell überfordert. Ihr erscheint die Flucht in eine Fantasie als die beste Medizin. Indem wir der „perfekten“ Beziehung hinterherlaufen, verleugnen wir den Schmerz unserer Vergangenheit. Vor allem aber lehnen wir die potenziellen Fehler unserer Gegenwart ab – einschließlich der Schwächen der Menschen in unserem Umfeld.

Menschen mit Schwächen beunruhigen uns. Erstens, weil wir, wenn Sie uns nicht anhimmeln, wie es der Narzisst zu Anfang tut, fürchten, dass sie uns verlassen könnten. Und zweitens, weil sie uns an unsere eigenen Schwächen erinnern und wir fürchten, dass nur ein perfekter Mensch ausreicht, um unsere Unzulänglichkeit zu kompensieren.

Ein Mensch, der ebenfalls gelegentlich Scham empfindet, auch wenn es gesunde Scham ist, erinnert uns an unsere eigene, schmerzhafte, toxische und scheinbar unauslöschliche Scham. Da Narzissten ihre Scham komplett verleugnen, erscheinen sie uns wie perfekte Partner.

Was bleibt also, wenn die Fantasie stirbt und wir erkennen müssen, dass uns der Narzisst nicht die ersehnte Erfüllung bringt? Zuerst einmal kann sich das Leben kalt, trostlos und grau anfühlen. Wir werden wieder in das volle Spektrum der Wirklichkeit geworfen, einschließlich all ihrer schwierigen Aspekte. 

Wir entscheiden, nicht mehr mitzumachen

In der Beziehung mit dem Narzissten konnten wir unsere versteckte Grandiosität ausleben und glauben, die Beschränkungen „normaler Sterblicher“ würden für uns nicht gelten. Nun müssen wir uns der Erkenntnis stellen: Wenn wir mit der Wirklichkeit zurechtkommen wollen, müssen wir lernen, den Traum von Perfektion zu überwinden und zu akzeptieren, dass „normal“ gut genug für uns ist.

Wir brauchen Erfahrung und Weltkenntnis, um zu erkennen: Die Realität ist, trotz aller Schmerzen und Enttäuschungen, die sie enthält, wundervoll. Sie enthält alles, was wir uns wünschen könnten. Aber wir müssen sie uns erst erschließen, indem wir sie so annehmen, wie sie ist – mit all ihren Schwächen und Problemen.

Um die Wirklichkeit zu unserer eigenen zu machen, müssen wir unsere perfekte Fantasie loslassen. Wir müssen akzeptieren, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns in unseren Träumen vorgestellt haben. Und mir müssen uns unserer Scham stellen. Dies kann sich zuerst überwältigend anfühlen.

Sobald wir vor der Realität nicht länger die Augen verschließen, wird auch unser Trauma sichtbar, dem wir entkommen wollten: Unser Schmerz, unsere persönliche Tragödie, unsere Unzulänglichkeiten. Unsere geplatzten Träume, unsere unerfüllte Sehnsucht und unsere zerbrochene Vergangenheit. All das, was hätte sein können, aber nie Realität geworden ist. 

Mit derart beängstigenden Aussichten konfrontiert, suchen wir instinktiv nach einer Fluchtmöglichkeit. Sicher, wir könnten uns dem nächsten Narzissten in die Arme werfen, um das Spiel erneut zu spielen. Aber wir können uns auch entscheiden, dieses Mal einen anderen Weg zu gehen – und auszubrechen.

Wenn Sie mehr erfahren möchten, bieten Ihnen der Ratgeber „Sieg über Narzissmus“ eine praktische Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Überwindung von Narzissmus. Der Nachfolger, „Neuanfang nach Narzissmus“, hilft Ihnen, nach Ihrer Befreiung vom Narzissten Ihr eigenständiges Leben neu aufzubauen.

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