Ein offener Narzisst ist leicht zu erkennen. Mit seinem Selbstbewusstsein, seiner extrovertierten Art und seinem Durchsetzungsvermögen nimmt er jedes Quäntchen Raum ein, das sich ihm bietet und ist stets im Mittelpunkt einer Veranstaltung zu finden. 

In den Medien erfährt das Thema Narzissmus in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit. Oft entsteht dabei der Eindruck, dass es nur eine Form von Narzissmus gibt, nämlich die oben beschriebene.

In Wirklichkeit existiert noch eine andere, weniger offensichtliche Ausprägung. Abseits des Rampenlichts, in den Schatten, verbirgt sich eine unbekannte Art – ruhig, unauffällig, weniger forsch auftretend, aber genauso einflussreich. Eine Art Robin zum Batman des offenen Narzissten, der sich im Hintergrund hält, aber insgeheim grandiose Pläne schmiedet, um Batmans Platz einzunehmen.

Diese etwas humorvolle Beschreibung hat einen ernsten Kern. Sowohl der offene als auch der verdeckte Narzisst verbindet eine gemeinsame Grundeigenschaft: ihre Grandiosität. Beide glauben insgeheim, sie seien überlegen, unfassbar mächtig und weit fähiger als alle anderen.

Dennoch gibt es zwischen ihnen einen subtilen Unterschied: Der eine richtet sich ganz nach dem Lebenstrieb aus, der andere nach dem Todestrieb.

Um einen Narzissten zu erkennen, folge der Scham

Der offene Narzisst tanzt seiner Scham davon. Er baut sich eine prahlerische Fassade und fühlt sich über negative Gefühle erhaben. Der verdeckte Narzisst hingegen ist permanent in seine Scham verstrickt.

Aus diesem Grund reagieren beide unterschiedlich auf Herausforderungen. Widersetzen Sie sich einem offenen Narzissten, nimmt er den Kampf auf und geht in die Offensive, um sich seiner Macht zu versichern. Er lenkt von seinen Fehlern ab, wehrt sich verbissen gegen jede Kritik und macht Sie lächerlich, um jede Begegnung mit seiner Scham zu vermeiden.

Der verdeckte Narzisst hingegen hat keine Macht in der Welt außer den Phantasien, die er in seinem Kopf hegt. Im Gegensatz zum offenen Narzissten, der oft schon in seiner Kindheit von den Eltern idealisiert und zur Grandiosität erzogen wurde, ist er nie gefördert oder dazu ermutigt worden, zu glänzen. 

Der offene Narzisst wurde von seinen Eltern zwar nur bedingt geliebt, nämlich dann, wenn er die erwünschte Leistung brachte – aber er wurde wenigstens in irgendeiner Form geliebt. Seine Attraktivität, sein Status als Erstgeborener, seine Intelligenz oder seine besondere Begabung verschafften ihm etwas, um sich gut zu fühlen und seiner Scham zu entkommen.

Dem verdeckten Narzissten aber wurde nie ein Weg aufgezeigt, um sich über das Gefühl der Unzulänglichkeit zu erheben. Er verinnerlichte den erdrückenden Schmerz der unauslöschlichen Scham, bis diese zu einem Dauerzustand wurde.

Sein Sinn für Neugier und seine kindlichen Instinkte für Wunder und Licht wurden dermaßen unterdrückt, dass er nicht anders konnte, als in Scham zu versinken. Verdeckte Narzissten befinden sich oft in einem dauerhaft abgestumpften Zustand, der als toxische Scham bekannt ist.

Während also der offene Narzisst Konflikte nicht nur direkt angeht, sondern sie sogar sucht und in ihnen aufblüht, kämpft und manipuliert der verdeckte Narzisst mit verborgenen Mitteln.

Der hypersensible verdeckte Narzisst

Verdeckte Narzissten werden auch als „verletzliche Narzissten“ bezeichnet. Ihr Kern ist zutiefst verwundet. Für sie ist es unerträglich, bloßgestellt zu werden oder Fehler eingestehen zu müssen. Schon der kleinste Auslöser in der Gegenwart, der sie an ihre Unzulänglichkeit erinnert, kann sie zurück in ihr Kindheitstrauma schleudern.

Aus diesem Grund pflegen sie eine vielschichtige und sorgfältig ausbalancierte Persönlichkeit, die darauf abzielt, von anderen narzisstische Versorgung zu beziehen und sich gleichzeitig vor Verletzungen zu schützen. Das Resultat ist eben jenes Verhalten, das verdeckte Narzissten so schwer zu erkennen macht: Der verdeckte Narzisst zieht indirekt und aus dem Hintergrund die Strippen, weicht aber jedem offenen Konflikt aus und drückt sich vor der Verantwortung für seine Taten. 

Auch wenn er nicht im Rampenlicht steht, klammert er sich, genau wie der offene Narzisst, an ein idealisiertes, völlig überhöhtes Selbstbild. Dass andere ihn nicht verehren, schreibt er dem Umstand zu, dass er zu „anders“ und zu „besonders“ ist. 

Während der offene Narzisst sich im Licht der Bewunderung anderer sonnt, bildet sich der verdeckte Narzisst gerade etwas darauf ein, dass sein Umfeld seine „Genialität“ nicht erkennt oder wertschätzt. Er glaubt beispielsweise, dass er einfach zu viel weiß, fühlt oder verstanden hat, sodass ihm niemand sonst in eine „höheren Sphären“ folgen kann.

Er ist überzeugt, dass er über unendliches Potenzial verfügt. Jedoch hält ihn seine überwältigende Scham davon ab, dieses in der Außenwelt in Handlungen umzusetzen. Zudem ist er dermaßen empfindlich, dass er jegliche Kritik um jeden Preis vermeidet.

Fühlt er sich enttäuscht oder zurückgewiesen, schottet er sich ab und erfindet eine Geschichte, warum das, was er versucht hat, nicht funktionieren konnte – und natürlich sind es immer andere Menschen oder ungünstige Umstände, die die Schuld tragen.

Der Unterschied – kompakt

Der verdeckte Narzisst tut alles, um Signale der Außenwelt abzublocken, die darauf hindeuten, dass er vielleicht nicht so besonders ist, wie er glauben möchte. Jegliche Appelle an seine Vernunft und Rationalität gehen bei ihm zum einen Ohr herein und zum anderen wieder heraus.

Der offene Narzisst weicht keinem Kampf aus. Der verdeckte Narzisst weicht jedem Kampf aus. Trotzdem reagieren beide mit Groll und Wut, wenn sie sich beleidigt, bloßgestellt oder in eine unterlegene Position gebracht fühlen.

Bei einem offenen Narzissten spüren Sie direkt an seiner Reaktion, ob Sie ihn gereizt haben. Ein verdeckter Narzisst wird auf Verletzungen weniger offensichtlich reagieren – aber nehmen Sie sich vor dem schleichenden Gift in Acht, mit dem er Sie für Ihre „Übertretung“ zahlen lässt.

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