Sich selbst zu lieben, ist nicht nur ein moderner Modebegriff. Es ist eine essenzielle Voraussetzung dafür, sich vor der Manipulation zu schützen. Der Grund ist einfach: Wer sich selbst lieben kann, muss weniger bei anderen suchen. Denn wem nichts fehlt, der ist weniger bedürftig.
Dabei geht es nicht darum, sich von anderen Menschen abzuwenden oder sich frustriert von der Welt abzukapseln. Es geht darum, mehr Fülle in sich selbst zu finden. Dies hat im Umgang mit anderen sogar einen spürbar positiven Effekt: Je weniger wir Beziehungen mit dem Drang angehen, vom anderen etwas „bekommen“ zu müssen, umso mehr können wir echte, auf Gegenseitigkeit beruhende Verbindungen aufbauen.
Nun ist der große deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche nicht gerade als Menschenfreund und Meister der Liebe bekannt. Die meisten Menschen verbinden ihn wahrscheinlich eher mit Negativität und Nihilismus. Beides ist jedoch fern von seiner eigentlichen Intention. Vermutlich gibt es wenige Menschen, die sich selbst ernster und wichtiger genommen haben, und zugleich hierdurch zu einer größeren Leichtigkeit gefunden haben als Nietzsche.
Allerdings gibt es eine schädliche, einengende Art, sich selbst ernst und wichtig zu nehmen, und eine gesunde. Letztere zielt nicht darauf ab, das eigene Ego auf ein Podest zu stellen, sondern die eigenen Bedürfnisse zu priorisieren, die eigene Einzigartigkeit anzuerkennen und sich zu bemühen, sein Leben an diese Gegebenheiten anzupassen.
Ohne uns zu sehr in Theorie zu verlieren, wollen wir uns an dieser Stelle einige Äußerungen von Nietzsche ansehen, die uns etwas Wichtiges über das Entwickeln von Selbstliebe lehren können.
Flucht vor sich selbst zum Nächsten
„Ich wollte, ihr hieltet es nicht aus mit allerlei Nächsten und ihren Nachbarn“, so schreibt Nietzsche in seinem wohl bekanntesten und populärsten Werk, „Also sprach Zarathustra“. „So müsstet ihr aus euch selber euer Freund sein.“
Nietzsches Argument: Nächstenliebe ist in Wahrheit Flucht zum Nächsten vor sich selbst. Während Nietzsche, als scharfer Kritiker des Christentums, vor allem über den bürgerlichen Christen des 19. Jahrhunderts schrieb, trifft seine Beobachtung ebenso auf Zielpersonen von Narzissmus (und Narzissten selber) zu.
Vielleicht kennen Sie den Ausspruch, dass man immer selbst sein schärfster Kritiker ist. Niemand kennt unsere Schwächen, Fehler und geheimen dunklen Seiten so gut wie wir selbst. Insofern kann es uns manchmal einfacher erscheinen, andere davon zu überzeugen, dass wir liebenswert sind, als uns selbst.
Auf Narzissten trifft dies eindeutig zu: Sie sind auf der Flucht vor ihrem abgespaltenen, korrumpierten und Angst einflößenden Kern und versuchen daher, ihr Ego und ihr Selbstwertgefühl aufzubauen, indem sie sich die Bewunderung einer Zielperson verschaffen. Aber auch die Zielperson leidet darunter, dass sie es „mit sich selbst nicht aushält“: Da sie von überwältigenden Selbstzweifeln gequält wird und überzeugt ist, nie „genug“ zu sein, fühlt sie sich zu Narzissten hingezogen, die ihr vermeintlich die Stabilität, Richtung und Macht bieten können, nach der die sich sehnt.
Auch hierzu lässt sich mit Nietzsche sagen: „Unser Glaube an andere verrät, woran wir gerne an uns selber glauben möchten.“ Aber was genau ist es, was wir bei unserem Nächsten suchen?
Warum glauben wir anderen mehr als uns selbst?
„Ihr haltet es mit euch selbst nicht aus und liebt euch nicht genug“, schreibt Nietzsche. „Nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrtum vergolden.“
Der Kern, und gleichzeitig die Nutzlosigkeit dieses Instinkts, ist von ihm hier brilliant erfasst. Wir glauben in unserer Tiefe nicht, dass wir wirklich liebenswert sind und zweifeln daher zurecht daran, dass wir uns je mit Tricks und Kniffen zur Selbstliebe überzeugen können. Aber einen anderen – jemanden, der uns nicht so innig kennt wir wir uns selbst – ihn könnten wir doch vielleicht dazu bewegen, uns zu lieben, und dann seine Liebe als Bestätigung nehmen, um uns selbst zu überzeugen – oder?
Nein. Denn wir bleiben uns bewusst, dass der andere über uns im Irrtum ist. Denn in der Tiefe unseres Herzens glauben wir ihm nicht mehr als uns. Die Liebe desjenigen, den wir ‚verführt‘ haben, reicht dafür nicht aus. Daher muss der Narzisst immer tiefer bohren, um aus seiner Zielperson immer mehr Ergebenheit und Selbstaufgabe hervorzuzwingen. Und auch die vom Narzissten ‚geliebte‘ Zielperson bleibt innerlich leer und unbefriedigt von ihrer Beziehung zu ihm.
Das Spiel funktioniert nicht. Wir kennen uns zu gut. Unser verdrängtes Unbewusstes lässt sich nie völlig abschalten, sondern meldet sich immer wieder. Die tiefe Verunsicherung bleibt. Aber gibt es eine Lösung?
Zur Selbstliebe gibt es keine Alternative
„Der eine geht zum Nächsten, weil er sucht“, schreibt Nietzsche. „Der andere, weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis.“
Kaum etwas fürchtet der moderne Mensch mehr, als mit sich selbst allein zu sein. Wir lenken uns ab, machen uns ’nützlich‘, vertiefen uns in eine ‚ideale‘ Vergangenheit oder sorgen uns um die Zukunft – alles, um nicht mit uns selbst im hier und jetzt zu sein.
Zu einem gewissen Grad ist dieses Verhalten menschlich. In jedem Augenblick der vollen Wirklichkeit des Kosmos und unseres Selbst ausgesetzt zu sein, gelingt selbst in den Mythen, die unsere Kultur bestimmen, nur den allergrößten Helden.
Jesus Christus, der das Leid der gesamten Menschheit auf seine Schultern nimmt. Arjuna, der Held der Bhagavad Gita, der von Krishna lernen muss, alles, was existiert, von der Zeit zermalmt zu sehen und trotzdem „ja“ dazu sagen. Oder Nietzsche selbst mit seiner „amor fati“: Dem Aufruf, zu allem, was uns widerfährt zu sagen: „Ja, so und nicht anders will ich es.“
Jedoch führt auch für uns normale Menschen (die immer ein wenig auch auf der Spur des Helden wandeln sollten) kein Weg daran vorbei, mehr Selbstliebe zu lernen und zu uns selbst, in all unserer Fragwürdigkeit und mit all unseren Schwächen, „ja“ zu sagen. Selbst wenn andere uns die Bestätigung unseres Wertes geben wollten, die wir suchen, und dafür all ihre Liebe, all ihr Können und all ihre Ressourcen einsetzen: Sie können uns nicht geben, was wir in unserem Innersten suchen – und brauchen.
Praktische Konsequenzen
Selbstliebe muss geübt und gelernt werden, wie jede andere Kunst und jedes andere Handwerk auch. In der Populärkultur wird dabei oft zu kurz gegriffen. Es geht nicht darum, sich öfter mit Rosenblättern in eine heiße Badewanne zu setzen und Prosecco zu trinken (obwohl natürlich nichts dagegen spricht). Ebensowenig geht es darum, sich einzureden, man hätte immer nur für andere geschuftet und nicht genug an sich selbst gedacht, womit jetzt endlich Schluss sein müsste (obwohl es selbstverständlich wichtig ist, auf sich zu achten).
Selbstliebe beginnt damit, anzufangen, zu sich selbst in kleinen Dingen ja zu sagen. Ich habe etwas vergeigt oder etwas Peinliches gesagt oder getan? Ja, so war es, das war ich und niemand anderes – und es ist okay. Ich schlage mich immer noch mit Problemen herum, die ich schon vor Jahren abhaken wollte, oder von denen ich geglaubt hatte, sie schon abgehakt zu haben? Ja, das stimmt und tut weh. Aber das heißt nicht, dass mein ‚Kern‘ falsch ist.
Ich habe all die Übungen gemacht, Yoga, Meditation, Gruppenseminare, habe Freundschaften gepflegt, lebe gesund, denke regelmäßig über mein Leben nach und habe einige Übung darin, mit mir selbst allein zu sein – aber manchmal (oder oft) sind die Leere und das Leiden trotzdem da?
Ja. So geschieht es mir, so bin ich vielleicht – und es ist okay. So ist mein Leben. Und ich mache weiter. Manchmal liebe ich mich nicht, wie ich es verdient hätte, geliebt zu werden? Auch hierzu: Ja. Aber ich sehe es mir nach. Und auch allen anderen – denn wie könnte ich sie für etwas verurteilen, was ich selbst nicht kann?
Ich habe schon so viel an mir gearbeitet und bin trotzdem schon wieder auf einen Narzissten hereingefallen? Ja – aber das nächste Mal ist wieder eine Chance, es besser zu machen.
Sich und andere vom Haken lassen
Nach und nach erlebt man auf diese Art die Freiheit, sich und andere vom Haken zu lassen. Und die Leichtigkeit, wenn man erkennt: So wie wir anderen dafür vergeben, uns nicht ‚perfekt‘ zu lieben, weil sie nur Menschen sind – können wir auch uns selbst vergeben.
Mehr Informationen und praktische Übungen zur Entwicklung eines gesunden Selbst finden Sie in meinen Büchern „Sieg über Narzissmus“ und „Neuanfang nach Narzissmus.“


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